Lehmann, Lilli, Sängerin (1848-1929)
Eigenhändiger Brief mit Unterschrift, 2 Seiten, gr-8, Berlin (Briefkopf), 17. 1. 1920. - An den Musikschriftsteller Paul Stefan (laut Angabe der Vorbesitzerin). "Hochverehrter lieber Herr Professor, die Noten sind schon eine ganze Weile da, Ihr l[ieber] Br[ief] kam gestern, für beides herzlichst Dank. Ich stehe grade vor m[einem] I[.] Liederabend der am 20ten ist, worin ich 3 Beethoven Adelaide, 2 Clärchenlieder, 9 R. Franze, 5 Löwe singe, 7 für mich ganz neue Lieder, an denen ich seit fast 3 Monaten übe. Dazu viele Stunden - so können Sie sich denken welche Zeit mir verbleibt mir etwas anzusehen. Die Noten sind auch so klein geschrieben, daß ich einen günstigen Tag abwarten muß der hell und nicht zu übervoll an Arbeit ist, bis ichs mir u Ihnen leisten kann, die Lieder anzusehen. Also Geduld, edler Gralsritter! Haben Sie 70 Jahre gewartet können Sie auch noch ein bisl länger warten. Es ist mit den Liedern wie mit Hüten, es steht einem nicht Jeder. Wie lange sucht man bis man so recht was gefunden hat, das einem Stimmung giebt, in Stimme liegt, zum eignen Herzen spricht u die 1000 Qualitäten besitzt die einem zum Studium u Aufbau hinreißen können. Selbst unter den besten Meistern ist die Auswahl nur eine ganz persönliche. Ich bin ja nur noch klassisch fast. Das Moderne ist mir meist ein Dorn im Ohre, ich mußte mir nach möglicher Prüfung immer wieder sagen: Nett, oder ganz netter Art. Warum soll ich mir das noch antun? So gehe ich mit meinem Alter, großen Meistern Arm in Arm - da weiß ich bin ich sicher. Ich habe alle Schubertlieder in großer Härtel Ausgabe, worin auch alle Skizzen sind. Darin sind so kostbare Stücke, man muß vor Freude laut auflachen, über die Einfachheit u diese Schönheit. Ich singe in m[einem] 2[.] Liederabend nur Schubert u Schumann, u für mich diesmal 5-6 neue Lieder die niemand singt u kennt. Welch eine reine Freude ist das! Für Ihre Artikel habe ich mich sofort nach Erhalt per Karte bedankt, ich hoffe Sie erhielten sie? Es hat mich sehr erfreut; ich danke herzlich. Maurel sagte mir oft, dass ich ihn an sie erinnere. Weniger erfreut hat mich ein Artikel in dem Blatt das mir zugesandt wurde, über Rosa Papier u deren Singstunden: 'Nur nicht mit die Muskeln singen (- hat sie gesagt -) o ja, das ist so schädlich!' Sie können sich denken was die für Stunden giebt: 'Sie i bitt' Sie, hängens des Bild grad! - Sie, i bitt Sie gehen's in die Küche u sagens, das Essen soll früher fertig sein. - oder: i bitt Sie, i geh nur an Brief schreiben, i komm glei wieder, singens derweil mit der Begleitrin - u s.w. / also: sobald ich mir die Lieder angesehen, Ihren Fleiß u Ihr Talent, so schreibe ich wieder. Bis dahin seien Sie herzlich gegrüßt von Ihrer sehr in Anspruch genommenen Lilli Lehmann." - Geschrieben auf einem alten Briefvordruck (geöffnetes und gedrehtes Doppelblatt), der gedruckte Kopf "Königliche Schauspiele / Der Erste Dramaturg" mit der aktuellen Adresse der Sängerin überstempelt.
Origineller und inhaltsreicher Brief der damals 71-jährigen deutschen Operrnsängerin (Sopran), die zu den bedeutendsten Wagner- und Mozartinterpretinnen ihrer Zeit gehörte und auch als Gesangspädagogin tätig war. "Adelaide": Beethovens Lied op. 46; "Clärchenlieder": Goethes Gedicht "Klärchens Lied" (aus "Egmont") wurde unter anderem von Johann Friedrich Reichardt und von Franz Schubert vertont; "Franze": Lieder des deutschen Komponisten und Dirigenten Robert Franz (1815-1892); "Löwe": der deutsche Komponist Carl Loewe (1796-1869), der über 400 Balladen vertonte; "Maurel": der französische Bariton Victor Maurel (1848-1923), der mit Lilli Lehmann befreundet war und mit ihr in regem Briefverkehr stand. Die hier von Lehmann etwas abfällig beurteilte österreichische Opernsängerin und Gesangspädagogin Rosa Papier (Mezzosopran, 1858-1932) war an der Wiener Hofoper tätig und brillierte hier ebenfalls als Wagner-Interpretin; sie gehörte zum Freundeskreis Gustav Mahlers, setzte sich für seine Berufung als Wiener Operndirektor ein und war die Mutter des Dirigenten Bernhard Paumgartner. Der Briefempfänger Paul Stefan (1879-1943) zählte zu den bemerkenswertesten und vielseitigen Musikhistorikern, Schriftstellern und Kritikern seiner Zeit; er schrieb auch Gedichte und verfasste unter anderem mehrere Bücher über Gustav Mahler.
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Bestellnummer 2505-52
€ 650,-